
Dynamische Grenzlandschaften in Europa
Zwischen starren Grenzlinien und gelebten Grenzlandschaften betritt die Diskussion um die europäische Integration eine neue Runde: Einerseits wird die Grenze zwischen Nationalstaaten überwiegend als Verwaltungs- und Restriktionslinie mit neuen Grenzbefestigungen im Kontext von globalen Migrationsbewegungen interpretiert. Andererseits werden die Territorialgrenzen als Wirtschafts- und Lebensräume gelesen, um das Zusammenwachsen von grenzüberschreitenden Städtenetzwerken und Regionen, Landschafts- und Kulturräume politisch zu fördern. Auf der individuellen Ebene agiert die digital vernetzte Gesellschaft dagegen in weiten Teilen nahezu unabhängig von Ländergrenzen und schwankt zwischen dem Rückzug ins Private sowie einer aufbegehrenden Zivilgesellschaft, die sich in städtischen und regionalen Bewegungen und Einheiten neu organisiert. Grenzfragen betreffen deshalb nicht nur Staatsgrenzregionen, sondern neue Eingrenzungs- und Entgrenzungsprozesse prägen städtische und ländliche Räume überall in Europa. Innerhalb dieses Spannungsgefüges manifestieren sich Planungs- und Gestaltungsfragen für das Europa der Zukunft an grenzüberschreitenden Alltagsorten, Stadtquartieren und Regionen.
Diese Grenzlandschaften sind die Aushandlungs- und Kristallisationsorte europäischer Stadtentwicklungspolitik. Im Rahmen einer Sommerschule eröffnen die Hochschulen deshalb eine kritische Diskussion zu Grenzräumen und den Themen zukünftiger Stadtentwicklung in Europa. Angehende Planer und Gestalter hinterfragen festgeschriebene Lesarten von Territoriallinien, beschreiben Dynamiken von Übergangsbereichen in Städten sowie Regionen und suchen nach Perspektiven für eine menschengerechte Entwicklung in Europa. Räumliche Phänomene und Kooperationsformen entlang von Grenzlandschaften rücken dabei in den Fokus der Borderline City. Das Werden und der Wandel der Lebensräume – von der Architektur bis zur Region – bedürfen mehr als zuvor einer Kartierung, um die Dialektik und Gleichzeitigkeit dynamischer Entwicklungszusammenhänge auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zu beschreiben. Nur so können planerische und gestalterische Handlungsnotwendigkeiten von besonderem Interesse in die Debatte zur Weiterentwicklung der europäischen Integration und der Leipzig Charta diskutiert werden. Gegenstand der Sommerschule 2020 sind deshalb Orte, welche mehr als andere von Grenzprozessen betroffen sind:
Ein- und Entgrenzungsprozesse des Alltags
Nicht nur Staatsgrenzen strukturieren das Zusammenleben der Menschen. Besonders eine räumliche und zeitliche Entgrenzung wird immer sicht- und spürbarer in den Dörfern, Städten und Regionen Europas. Die Flexibilisierung und Digitalisierung alltäglicher Tätigkeiten wie Arbeit, Konsum, Freizeit und Mobilität führt zu einer zunehmenden Auflösung kollektiver Zeitstrukturen und ändert den Rhythmus unserer Städte. (vgl. Pohl 2009) Infolge der Angleichung institutioneller Rahmenbedingungen und dem technologischen Fortschritt ändern sich deshalb funktionale und infrastrukturelle Anforderungen an Stadt. Gleichzeitig greifen beispielsweise Arbeits- und Lebenswelten immer stärker ineinander, was zukünftig zusätzliche Auswirkungen auf die funktionalen Zusammenhänge im urbanen Raum und seine Organisation haben wird. Die digitalisierte Erwerbsarbeit erzeugt zunehmend eine Entkopplung vom Standort des Arbeitsgebers, wodurch Mobilitäts- und Wohnstandortfragen neu verhandelt werden. Flexibles und entgrenztes Arbeiten verändert den Alltag in der Stadt. Räumliche, zeitliche und funktionale Veränderungsprozesse sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern werden von Bezügen und Abhängigkeiten geprägt.
Nationalstaat als Entscheidungsträger
vs. Stadt als Impulstreiber
Anstelle der Nationalstaaten treten zunehmend Gebiets- und Stadtregierungen in den Vordergrund, wenn Fragen der Migrations‑, Umwelt- und Stadtentwicklungspolitik debattiert werden. Sie verschaffen sich als gestaltende und handelnde Regierungs- und Verwaltungsinstanz zunehmend auf europäischer Ebene an Bedeutung. Der Handlungsdruck stadtpolitischer Herausforderungen steht langjährigen Veränderungs- und Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene gegenüber. In einigen Ländern der EU wird beispielsweise eine zunehmende Abschottungspolitik durch die politischen Vertreter auf Nationalstaatsebene vorangetrieben. Demgegenüber werden die Ideale einer offenen, inklusiven Gesellschaft speziell in verdichteten, urbanen Räumen gefordert und durch die lokale Politik der Städte auch umgesetzt. (z. B. Solidarity Cities) Städte wie Danzig/Gdansk in Polen, Palermo und Neapel/Napoli in Italien werden zu Vorreitern und agieren im Kontrast zu ihren nationalstaatlichen Regierungen. Städte schließen sich nicht nur in Migrationsfragen, sondern auch für eigene umwelt- und stadtpolitische Ziele zu Städtenetzwerken zusammen. Sie bilden ein Gegengewicht zu politischen Entscheidungen auf nationaler Ebene und positionieren sich neben der 2007 auf Ministerebene der Nationalstaaten verabschiedeten „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ mit einer eigenen urbanen Agenda. Die lokale Politik überlagert damit die nationalen Leitlinien und fordert vermehrt Subsidiarität ein.
Grenzpolaritäten dynamisieren Stadt- und Regionalentwicklung
Der Wandel von Grenzlinien prägte das Miteinander von Staatsterritorien, bevor die interregionalen Kooperationsräume entlang von Staatsgrenzen durch den Integrationsprozess der Europäischen Union eine Institutionalisierung erfahren haben. Besonders das 19. und 20. Jahrhundert war durch die Länderzusammenschlüsse im Rahmen der Nationalstaatsbewegungen in Europa entscheidend geprägt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgten weitere multilaterale Zusammenschlüsse, die den Beginn der europäischen Integration mit ihren vielfältigen Institutionen begründeten und bis heute prägen. So wird beispielsweise mit dem Schengener Abkommen das unkontrollierte Überwinden der Binnengrenzen von Personen möglich, was die wirtschaftliche Entwicklung der Grenzregionen enorm beeinflusste. Das Zusammenwachsen wird dabei nicht immer als Attraktivität oder Gewinn von Grenzstädten wahrgenommen. Das „nahe Fremde“ verlor nicht zuletzt durch den gemeinsamen Euro-Raum an Strahlkraft. Dabei profitierten diese Städte ökonomisch oft vom Grenzübergang (z. B. Ausgeben der letzten Fremdwährung im Urlaub) und sehen sich heute zunehmend mit einem kleinteiligen und kleinräumlichen Strukturwandel konfrontiert.
Interregionale Kooperationsräume bestimmen Europa
Europa wird durch Grenzlinien in Nationalstaaten unterteilt. Ihre zweidimensionale Lesart wird vielfältigen politischen und sozioökonomischen Entwicklungen zunehmend nicht mehr gerecht. Im Zuge der Kohäsionspolitik der Europäischen Union wird die gemeinsame Raumentwicklung nicht nur entlang der Grenzverläufe seit fast 30 Jahren zunehmend gefördert, wobei das Fördervolumen fortlaufend ausgebaut wird. Mit dem „Europäischen Fond für regionale Entwicklung“ (EFRE) und dem daraus finanzierten INTERREG-Programm soll die trennende Wirkung von Grenzen überwunden werden, wobei die Eigenschaften der einzelnen Regionen weiter hin zum Tragen kommen sollen. Ziel des Förderprogramms ist es, die Grenze nur noch als Verwaltungslinie beizubehalten und die Grenzregion als gemeinsamen Lebens‑, Wirtschafts- und Landschaftsraum zu etablieren (vgl. Gabe 2015).
Grenzlandschaften verstehen und gestalten
Grenzen besitzen unterschiedliche Wirkweisen, die zur Veränderung der Städte und Regionen auf allen Maßstabsebenen führt. Nach Benjamin Davy bestimmen besonders die Funktionen Teilen, Trennen und Verbinden Planungs- und Gestaltungsfragen. Teilen beschreibt die Einteilung eines Ganzen und dient der Organisation von Innenwelten. Die trennende Wirkung von Grenzen organisiert das Verhältnis des Abgegrenzten gegenüber seiner Umgebung, ist dabei aber auch temporär wandelbar. Hermetische und kaum zu überbrückende Grenzverläufe können temporär geöffnet und geschlossen werden, beispielsweise die Öffnung der Außengrenzen Deutschlands 2015 im Zuge der zunehmenden Flüchtlingsbewegungen in Europa. Später folgte an den gleichen Grenzübergängen im Schengen-Raum eine Wiedereinführung von Personenkontrollen. Die Effekte und Auswirkungen dieser Mechanismen sind dabei für Individuen höchst unterschiedlich. Und nicht zuletzt verbinden Grenzen durch die Definition von Übergängen und Korridoren. Räumliche und zeitliche Qualitäten werden so erst gestaltbar.
Grenzen sind nicht naturgegeben sondern unterliegen einer fortschreitenden Transformation und sind Ergebnis von Verhandlung, Aushandlung und Gestaltung. Sie werden sozial „produziert“, in den alltäglichen Raum „eingeschrieben“ aber auch politisch „implementiert“. Ihre Lebensdauer und Wirkweisen sind kaum erforscht. Das Nachwirken ehemaliger Grenzziehungen ist beispielsweise erst seit wenigen Jahren Forschungsgegenstand und mit dem Phänomen der Phantomgrenzen zusammengefasst. Zwischen Akteuren, Alltagspraktiken und politisch-administrativen Institutionen werden Wechselwirkungen über langfristige Zeitspannen beschrieben.